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Kammersteiner Verfassungsvater

Kammersteiner Verfassungsvater
Kammersteiner Verfassungsvater
Erinnerung an Altbürgermeister Heinrich Haiger

Nürnberg, ein Trümmerhaufen. Ausgebombte, Kriegsrückkehrer, Flüchtlinge und Heimatvertriebene bevölkern das von den US-Amerikanern besetzte Land auch um Schwabach.
 

1946, das Jahr nach nationalsozialistischer Terrorherrschaft und Zweitem Weltkrieg. Und das Jahr, in dem sich Bayern – in Anknüpfung an lange eigenstaatliche Tradition – im Herbst eine Verfassung gab. Mit dabei: der damalige Kammersteiner Bürgermeister, Landwirt und langjährige Landtagsabgeordnete Heinrich Haiger, der bereits die erste Verfassung des Freistaats Bayern 1919 mitberaten hatte.

Landesökonomierat Heinrich Haiger war von 1908 bis 1932 Erster Bürgermeister der Gemeinde Kammerstein. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er im Mai 1945 von den Amerikanern wieder als Bürgermeister eingesetzt. Dieses Amt übte er bis 1952 aus. Zudem war er von 1919 bis 1932 Abgeordneter des Bayerischen Landtags. 1946 wurde Haiger in die Verfassunggebende Versammlung des Freistaates Bayerns gewählt.

Anlässlich des 75. Jubiläums der Bayerischen Verfassung von 1946 traf sich am 8. Dezember im Kammersteiner Bürgerhaus eine politische Runde zum Gespräch über Verfassung, Freiheit, Subsidiarität, staatsbürgerliche Gesinnung und Extremismus: Haigers Nach-Nach-Nach-Nachfolger im Bürgermeisteramt, Wolfram Göll, der Haiger-Enkel und langjährige Gemeinde- sowie Kreisrat Heinrich Volkert, der Haiger-Urenkel und heutige Landtagsabgeordnete Volker Bauer sowie die Europaabgeordnete Marlene Mortler und der Bundestagsabgeordnete Ralph Edelhäußer.

Heinrich Haiger
Der Kammersteiner Altbürgermeister, Landtagsabgeordnete und Verfassungsvater Heinrich Haiger im Alter von etwa 60 Jahren. (Foto: Sammlung Heinrich Volkert)


Bürgermeister Wolfram Göll unterstrich gleich zu Beginn die starke Stellung des Föderalismus und des Subsidiaritätsprinzips, so Wolfram Göll – als Reaktion auf die zentralistische Nazi-Diktatur. Die Verfassungsväter seien offenkundig auch von kommunalpolitischer Erfahrung inspiriert gewesen. „Was die Kommune erledigen kann, sollte tunlichst auch dort angesiedelt bleiben. Nur solche Probleme, die uns kräftemäßig oder in der regionalen Ausdehnung übersteigen, sollen auf höhere Ebenen wandern. Das ist der Grundgedanke des Subsidiaritätsprinzips.“ Dieses Prinzip werde leider seit Jahrzehnten ausgehöhlt: Die Tendenz gerade in Berlin gehe leider eindeutig in Richtung Zentralismus, merkte der Bürgermeister kritisch an.

Eine zweite Besonderheit weise die Bayerische Verfassung auf, nämlich die Rechtsmittel, die die Bürger gegen vermeintlich ungerechte Gesetze einlegen könnten. Wolfram Göll betonte: „So darf in Bayern jeder Bürger per Popularklage vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof gegen jedes vom Landtag beschlossene Gesetz klagen.“

Gedenken an den Kammersteiner Verfassungsvater und Altbürgermeister Heinrich Haiger
Gedenken an den Kammersteiner Verfassungsvater und Altbürgermeister Heinrich Haiger (v.l.): Bürgermeister Wolfram Göll, Haiger-Enkel Heinrich Volkert, Haiger-Urenkel und Landtagsabgeordneter Volker Bauer, Europaabgeordnete Marlene Mortler und Bundestagsabgeordneter Ralph Edelhäußer. (Foto: Daniel Nagl)


Solches sei im Bund unmöglich, Popularklagen vor dem Bundesverfassungsgericht gebe es nicht. Nur unmittelbar Betroffene dürften eine Verfassungsbeschwerde einreichen, zudem könnten Bundestagsfraktionen oder Landesregierungen Normenkontrollklagen gegen Gesetze in Karlsruhe erheben. „Das Popularklagerecht zeigt, wie volksnah die Bayerische Verfassung gestrickt ist – wohl auch als Abwehrrecht gegen einen totalitären Staat“, so der Bürgermeister.
Wolfram Göll verwies auch auf ein weiteres besonderes Kennzeichen der Bayerischen Verfassung: „Unsere Verfassung ist ja auch literarisch sehr elegant und ästhetisch wertvoll, in manchen Passagen beinah lyrisch. So ist dort die Rede vom Wahren, Guten und Schönen als Bildungsziel – so eine Formulierung würde in das sehr nüchterne Grundgesetz der Bundesrepublik nie reinpassen.“

Haiger-Enkel Heinrich Volkert betonte, dass vor allem die Erfahrung zweier Kriege und oft früh übernommener Verantwortung viele Verfassungsväter prägte – seinen Großvater inklusive. „1890, als Heinrich Haiger 13 Jahre alt war, ist sein Vater gestorben. Ich bin mir sicher, er musste als Bub richtig anpacken, legte aber als Agrarfachmann das hin, was man heute Bildungsaufstieg nennen würde, bis zum Landesökonomierat.“ Mit 31 Jahren wurde Haiger zum Kammersteiner Bürgermeister gewählt.
Heinrich Volkert berichtete aus seiner Kindheit davon, dass es für Heinrich Haiger auch als Bürgermeister Probleme genug zu lösen gegeben habe. „Da sind viele Leute nach 1945 in der Amtsstube meines Großvaters bei uns auf dem Hof ein und aus gegangen.“

Heinrich Haiger übte das Bürgermeister-Amt ebenso nebenberuflich aus wie sein Kreistagsmandat und verschiedene Ämter im Landwirtschaftsbereich, bevor er mit 42 Jahren für die bürgerliche Bayerische Mittelpartei in den Landtag einzog. 1932 fiel die nationalliberale DNVP, der sich Haiger angeschlossen hatte, aus dem Landtag. 1933 setzten die Nationalsozialisten Haiger als Bürgermeister ab. „Ich bin stolz auf meinen Urgroßvater, dass er die Nationalsozialisten im Landtag deutlich kritisierte“, so Haigers heutiger Nachfolger im Landtagsmandat und Urenkel, Volker Bauer.

Nach dem Tod seines Schwiegersohnes und Hofnachfolgers Georg Volkert an der Ostfront übernahm Haiger 1942 – mit 65 Jahren – nochmals Verantwortung auf dem Hof. „In der damals noch nicht motorisierten Landwirtschaft in diesem Alter nochmal auf dem Hof voll anzupacken, sich nach dem Ende der Naziherrschaft als Bürgermeister zur Verfügung zu stellen und ganz nebenbei noch die Bayerische Verfassung mit auf den Weg bringen, das muss Kraft gekostet haben! Ich verneige mich“, sagte die Europaabgeordnete Marlene Mortler. Haiger habe sich nicht vor der Verantwortung gedrückt. Das gelte auch für seine Funktion als Leiter des für die konfliktreiche Organisation von Lebensmitteln für die notleidende Bevölkerung zuständigen Ernährungsamtes.

Der Bundestagsabgeordnete Ralph Edelhäußer fügte an: „Wir ärgern uns heute vielleicht über Bürokratie oder nicht optimale Förderprogramme. Aber das muss damals alles andere als ein Spaß gewesen sein, wieder harmonisch mit denen zu arbeiten, die die Nazis eifernd unterstützt haben, die ihn abgesetzt haben, die den Krieg wollten, die sich vielleicht auch noch gegen die Einquartierung von Flüchtlingen gestellt haben. Das war doch damals nicht alles heile Welt, nur weil die Amerikaner einmarschiert sind.“  

Die von Heinrich Haiger mitverabschiedete Bayerische Verfassung habe sich gut entwickelt, stellt Volker Bauer fest. „Das muss man auch mal sagen, auch wenn unsere Bayerische Verfassung inklusive Staatsbürgerschaft seit 1949 zugedeckt unter dem Grundgesetz ruht. Sie ist auch 75 Jahre nach ihrem Inkrafttreten am 8. Dezember 1946 reichlich vital. Gerade wenn ich mir ansehe, was in den letzten 75 Jahren auch durch Volksbegehren alles geändert wurde – von Gemeinschaftsschule über Umweltschutz, kommunale Bürgerbegehren, Bekenntnis zur Europäischen Einigung bis hin zu gleichwertigen Lebensverhältnissen in Stadt und Land sowie der Schuldenbremse.“

Daniel Nagl / wog

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